Der neue Nachbar Amazon – was der HGV Tübingen dazu sagt.

„Wer nicht mitkocht, steht zuletzt auf der Speisekarte“. Auf diese Worte, die Ministerpräsident Kretschmann bei der Eröffnung des Amazon-Forschungszentrums an die Adresse der Amazon-Ansiedlungskritiker richtete, könnte man aus Sicht des Tübinger Handels erwidern: Nur die allerdümmsten Kälber wählen ihre Metzger selber.

Und es birgt schon eine gewisse Ironie, dass bei der Würdigung der Räumlichkeiten, die gemäß Forderung der Stadt auch einen dauerhaft öffentlich zugänglichen Bereich umfassen, noch einmal explizit darauf hingewiesen wird, dass dessen Nutzung ohne Konsumzwang möglich sei: Amazon für alle und ohne Konsumzwang – kannste Dir nicht ausdenken.

Aber mal im Ernst: Es ist kein Geheimnis, dass auch der Tübinger Handel den Planungs- und Entscheidungsprozess um die Vergabe des Grundstücks oder besser Filets in grandioser Aussichtlage mit großer Skepsis, wenn nicht gar mit Ablehnung begleitet hat. Weshalb sollten wir uns ein Unternehmen in die Stadt holen, das unserem Geschäftsmodell den Kampf angesagt hat und zwar dem stationären Einzelhandel weltweit?

Erst kam das Internet mit Amazon und Co., dann Corona. Und als wäre das nicht genug, tobt seit einem Jahr mitten in Europa noch ein Krieg, dessen mittelbare Folgen – Inflation, Unsicherheit, Konsumzurückhaltung – auch bei uns spürbar sind.

Aber was hätten wir gewonnen, wenn Amazon in Tübingen den Zuschlag für den Baugrund nicht erhalten hätte? Wäre die Situation des Handels anders? Wohl kaum. Amazon und die Technologien des Online-Handels sind in der Welt.

Auch für jeden, der aus Prinzip nicht bei Amazon einkauft, ist es kaum möglich, einen Bogen um das Unternehmen zu machen: Netflixen, auf Airbnb die eigene Hütte als Ferienwohnung anbieten oder den nächsten Urlaub klarmachen, per Dropbox die Urlaubsbilder mit Freunden und Familie teilen, einen eigenen Online-Shop betreiben – bei all dem ist Amazon meistens mit von der Partie. Denn nicht nur der Online-Versandhandel ist seine Domäne. Auch das Bereitstellen von Rechenkapazitäten und Speicherplatz.

Unter dem Namen Amazon Webservices (AWS) ist das Unternehmen mit seinen Cloud-Computing-Lösungen weltweit tätig. In vielen Ländern, u.a. in Deutschland, stellt AWS auch im öffentlichen Bereich technische Infrastruktur bereit, die für das Funktionieren unseres Alltags unverzichtbar ist.

So betrachtet war Amazon bereits aus Tübingen schon nicht mehr wegzudenken, bevor es überhaupt die Idee für den Bau des Forschungszentrums gab. Also abnicken, was ohnehin nicht zu ändern ist? Nein. Aber annehmen und es für uns nutzbar machen.

Maschinelles Lernen oder Künstliche Intelligenz lässt unsere Smartphones nicht nur hübschere Bilder knipsen. KI hat das Potenzial, sich auf alle Bereiche unseres Lebens auszuwirken: Arbeiten und Lernen, medizinische Versorgung und Forschung, Eindämmung des Klimawandels, Mobilität, Konsum und Freizeitgestaltung, um nur einiges zu nennen.

Tübingen sollte sich als Teil des Cyber Valley daher nicht nur als erste Adresse für ambitionierte Unternehmen und kluge Köpfe profilieren und Gewerbesteuereinnahmen für den kommunalen Haushalt generieren. Es sollte die verfügbare Technologie auch zum Wohle aller nutzen und wie beim Klimaschutz den Anspruch haben, Modellstadt zu sein.

Dazu ein paar Vorschläge von uns: Optimierung des Öffentlichen und des Individualverkehrs, insbesondere auch des Parksuchverkehrs, Nutzung neuer Wege in der Organisation von Logistikprozessen in und für die Innenstadt, innovative onlinegestützte Wege beim Leerstandsmanagement. Und auch die Stadtentwicklung insgesamt kann von den Instrumenten prädiktiver Analytik profitieren. Wer früher und verlässlicher das Später kennt, wird von den tatsächlichen Entwicklungen weniger kalt erwischt.

Wo Meinungen und Überzeugungen manchmal unüberbrückbar einander gegenüberstehen, kann eine Würdigung der Fakten, datengetrieben und in Echtzeit generiert, neue Wege und sogar ganz andere Notwendigkeiten aufzeigen. Diese Möglichkeit sollten wir uns nicht entgehen lassen.

Ende März eröffnet Tübingen seinen Vision Concept Store, einen digital-stationären Erlebnisraum. Der moderne Treffpunkt für Zukunftsgestaltung mitten in der Altstadt wird finanziert aus Mitteln der Stadt. Er ist Teil der von der Wirtschaftsförderungsgesellschaft Tübingen (WIT) und dem Handel- und Gewerbeverein Tübingen (HGV) gemeinsam initiierten Digitalisierungsstrategie für den Handel.

Anders als vielleicht Amazon strebt die Initiative, die auch Unternehmen wie die Digitalisierungsexperten Drehmoment und acameo sowie die Kreissparkasse Tübingen, Tübingen erleben und tuemarkt.de mittragen, nicht die Weltherrschaft an. Aber wie der stationäre Handel seine Stärken dank digitaler Technik und innovativer Konzepte auch weiterhin ausspielen kann, können alle erfahren, die interessiert daran sind, dass und wie unsere Städte auch in Zukunft lebendig bleiben. Spoiler-Alert: Dazu braucht es weiterhin Menschen, die gerne in die Stadt kommen und Geld ausgeben. Menschen, die hier einkaufen, essen gehen, ausgehen und einfach eine gute Zeit haben wollen.